„Osnabrug“, Petrus Bertius: Commentarii rerum Germanicarum liber III, Amsterdam 1616, S. 634 (Museumsquartier Osnabrück – Kulturgeschichtliches Museum, A 743)

Osnabrück – „Stadt mit Migrationshintergrund“

von Thorsten Heese

Migration ist eine anthropologische Konstante. Sie bildet, so der Migrationshistoriker Jochen Oltmer, „seit jeher ein zentrales Element der Anpassung des Menschen an Umweltbedingungen und gesellschaftliche Herausforderungen.“ Dass Menschen wandern, dass sie losgehen und ankommen, ist also historisch betrachtet der ‚Normalfall‘. Auslöser von Wanderungsprozessen können verschiedenste wirtschaftliche, politische, religiöse, umweltbedingte oder persönliche Faktoren am Herkunfts- oder Zielort sein. In diesem Sinne ist Osnabrück ein Ort „mit Migrationshintergrund“. Die erste Siedlung ist an einer Stelle entstanden, an dem sich seit Jahrtausenden zwei wichtige Verkehrs- und Handelswege kreuzen. Hierher kamen Menschen, blieben und gingen, reisten durch, handelten miteinander, kauften und verkauften, tauschten sich aus. Manche kamen und blieben für immer. Andere gingen, blieben weg oder kamen zurück. Wieder andere gingen regelmäßig für eine Weile, um genau so regelmäßig zurückzukehren. Manche folgten anderen, die vorausgegangen waren. Menschen machten sich freiwillig auf den Weg, andere gingen und kamen unfreiwillig. Sie wurden vertrieben, wurden mitunter mit dem Tode bedroht, mussten fliehen.

Osnabrück war immer ein Ort ‚in Bewegung‘. Migration in Osnabrück hat dabei sehr unterschiedliche Facetten – vielschichtige ‚Faces of Migration‘. Die damit verbundenen Begegnungen von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppierungen waren keinesfalls immer nur von Harmonie geprägt. Diese Geschichten spiegeln daher in konkreten Situationen auch immer den jeweiligen Umgang mit Fremdheitserfahrungen und Veränderungen sowie die dadurch ausgelösten Aushandlungsprozesse eines geregelten Miteinanders wider. Eine umfassende Osnabrücker Migrationsgeschichte zu schreiben, die diese Prozesse detailliert abbildet, muss an anderer Stelle erfolgen. Mit dem „Virtuellen Osnabrücker Migrationsmuseum“ ist im Kulturgeschichtlichen Museum des Museumsquartiers Osnabrück ein digitales Archiv begonnen worden, das Facetten dieser Migrationsgeschichte kontinuierlich sammelt. Im Folgenden können stattdessen nur einige wenige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit vorgestellt werden.

Sogenannter Osnabrücker „Judeneid“, um 1300 (Niedersächsisches Landesarchiv - Abteilung Osnabrück Dep. 3 a 1 III c Nr. 44)
Da ist z.B. die Geschichte der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde, die in Osnabrück vom 13. bis ins beginnende 15. Jahrhundert reicht. Sie wurden vom Bischof in der Stadt angesiedelt. Grund war der wachsende Geldbedarf des Bischofs, der jüdische Familien gezielt als Geldgeber in die Stadt holte und unter seinen Schutz stellte. Sie besaßen einen Sonderstatus, weil sie unter den Christ:innen als Ungläubige galten. Sie konnten kein Bürgerrecht erwerben und damit auch kein Handwerk ausüben. Daher blieben ihnen nur wenige Erwerbsmöglichkeiten. Dazu gehörte das Geldgeschäft, da sie im Gegensatz zu den Christ:innen Zinsen nehmen durften. 1267 wurde in Osnabrück erstmals ein Jude (Jakob) urkundlich erwähnt. 1327 lebten bereits 15 jüdische Familien in der Stadt. Die Gemeinde besaß eine Synagoge mit Schule an der Schweinestraße (der heutigen Marienstraße) und einen Friedhof auf dem Westerberg. Obwohl sie keine Bürger waren, mussten sie für ihr Wohnrecht hohe Abgaben zahlen. Aufgrund unterschiedlicher Lebensgewohnheiten kam es zwischen der Stadt und der vom Bischof angesiedelten jüdischen Bevölkerung regelmäßig zu Streitigkeiten. Dabei wurden letztere häufig beschuldigt, etwas Unrechtmäßiges getan zu haben. Wollte sich ein Jude gegen solche Anschuldigungen wehren, so konnte er durch das Schwören eines besonderen „Judeneides“, der sich in einem Formular aus der Zeit um 1300 erhalten hat, seine Unschuld beweisen. Die Drohungen, die ihm im Falle eines Meineides blühen sollten, bezeugen allerdings das große Misstrauen, das die Osnabrücker Bürgerschaft ihren jüdischen Mitbewohner:innen entgegenbrachten.

Dieses Misstrauen kulminierte während der Pest um 1350, an der viele Menschen starben. Damals wurde den Juden unberechtigte Weise angelastet, sie hätten die Brunnen vergiftet, da sie von der Pest weniger betroffen waren. Das folgende Pogrom im Sommer 1350 überlebten nur wenige. Der Bischof begann danach erneut, jüdische Familien in Osnabrück anzusiedeln. Erst nach der Aufhebung des Zinsverbotes für Christ:innen hob er 1424 auf Drängen der Stadt den Schutz der jüdischen Bevölkerung auf. Die letzten beiden jüdischen Familien mussten die Stadt verlassen. Erst im 19. Jahrhundert sollte sich wieder eine jüdische Gemeinde in Osnabrück bilden.

Der erste gesicherte Nachweis für einen Afrikaner in Osnabrück stammt aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Der ehem. Bürgermeister Gerhard Schepeler kaufte 1656 in Hamburg von dem westfriesischen Kaufmann Samuel Schmidt einen damals elfjährigen Sklaven. Den 1645 oder 1646 geborenen Jungen hatten holländische Soldaten an der westafrikanischen Küste, vermutlich in Guinea, während einer Patrouille am Ufer spielend aufgegriffen, verschleppt und wenig später, 1649 oder 1650, an Schmidt verkauft. Diesem hatte das Kind sieben Jahre lang als Domestik gedient, bevor er ihn in Hamburg an Schepeler verkaufte. 1661 ließ Schepeler ihn in der Marienkirche auf den Namen Christian Gerhard Schepeler taufen. Die protestantische „Mohren-Tauff[e]“ war in Osnabrück ein außergewöhnliches Ereignis – „an diesem Orte wol etwas newes, und bey Menschen=dencken in dieser Stadt nicht geschehen noch gesehen“, wie es in der aus diesem Anlass gedruckten Schrift heißt. Sie kann durchaus als eine Machtdemonstration der protestantischen Bürgerschaft gelesen werden. Über das genaue Schicksal des jungen Afrikaners und insbesondere über seine Sicht der Dinge kann daher kaum etwas gesagt werden.

Über die Jahrhunderte waren viele Osnabrücker:innen in ganz Europa auf Reisen: Nach ihrer Gesellenprüfung gingen Handwerker gewöhnlich auf Wanderschaft. Im Handwerk entsprach es der Tradition, im Anschluss an die Lehrzeit über mehrere Jahre in die Fremde zu ziehen und hier und da eine Arbeit anzunehmen. Gerade Kunsthandwerksgesellen legten meist sehr weite Strecken zurück und begaben sich oft auch ins Ausland. Die Wanderjahre dienten dazu, neue Arbeitstechniken in ihrem Handwerk kennen zu lernen und generell Lebenserfahrung zu sammeln. Studenten ließen sich in Universitätsstädten zu Theologen, Juristen und Medizinern ausbilden. Mönche suchten andere Klöster auf. Kaufleute betrieben ihre Geschäfte über weitläufige Handelsnetze wie die Hanse. Mit dem ersten protestantischen Bischof Ernst August I. von Braunschweig-Lüneburg kamen italienische Handwerker und Künstler nach Osnabrück, um das neue Residenzschloss zu bauen und auszugestalten. „Hollandgänger“ gingen im 18. und 19. Jahrhundert als Saisonarbeiter zum Grasmähen in die Niederlande, um dann bis zur nächsten Saison wieder ins Osnabrücker Land zurückzukehren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts flohen viele junge Männer vor den französischen Anwerbern, um nicht für Napoleon in den Krieg ziehen zu müssen.

Im 19. Jahrhundert war die Bevölkerung im deutschen Raum insgesamt stark in Bewegung. Im Zuge der Industrialisierung zogen die einen vom Land in die Städte und fanden dort Arbeit in den neu entstehenden Fabriken oder beim Eisenbahnbau, sorgten unter schwierigen Arbeitsbedingungen für wirtschaftliches Wachstum. Die anderen wanderten aus. Zwischen 1815 und 1914 verließen 5,5 Millionen Deutsche ihre Heimat und suchten in der Fremde eine neue Zukunft. Insbesondere die Heuerleute sahen in der Auswanderung oft ihre letzte Überlebenschance. In der Regel waren die USA das Ziel. Nordamerika nahm in drei großen Auswanderungswellen Menschen auf (1846–1857, 1864–1873 und 1880–1893). Erst das Wirtschaftswachstum der Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete die Massenauswanderung. Osnabrück lag in einem größeren Auswanderungsgebiet, das Südoldenburg, das südliche Emsland, das Osnabrücker und das Tecklenburger Land sowie den Bielefelder Raum umfasst. Manche Gemeinden wurden regelrecht „entvölkert“. Damme, Zentrum dieser nordwestdeutschen Auswanderungszone, verlor in den Jahren 1828–1890 über 27 % seiner Bevölkerung, das benachbarte Neuenkirchen 40 %. Die Stadt Osnabrück war als wachsender Industriestandort dagegen weniger betroffen.

Während des Nationalsozialismus wurden viele jüdischen Osnabrücker:innen, Künstler wie Felix Nussbaum und Friedrich Vordemberge-Gildewart oder politisch Verfolgte zur Flucht genötigt. Im Zweiten Weltkrieg wurden wiederum Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen nach Osnabrück geholt, um in der Industrie die einberufenen Arbeiter zu ersetzen und so die Kriegswirtschaft aufrecht zu erhalten. Am Ende des Krieges waren Millionen von Menschen in Europa an einen anderen Ort geraten – Displaced Persons. Flüchtlinge und Vertriebene aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches siedelten sich in Osnabrück und den umliegenden Städten und Gemeinden an. Sie machten etwa ein Viertel der Nachkriegsbevölkerung aus. Durch die Militärbesatzung kamen britische Truppen nach Osnabrück. Die Britische Garnison, zeitweise die größte in der Bundesrepublik, wurde erst 2009 aufgehoben. Bis dahin hatten sich viele persönliche Beziehungen entwickelt. Viele Briten blieben in ihrer neuen Heimat.

"Passage=Schein zur Reise von Bremen nach …", um 1880 (© Museumsquartier Osnabrück – Kulturgeschichtliches Museum, L 170/6)
Im 19. Jahrhundert war die Bevölkerung im deutschen Raum insgesamt stark in Bewegung. Im Zuge der Industrialisierung zogen die einen vom Land in die Städte und fanden dort Arbeit in den neu entstehenden Fabriken oder beim Eisenbahnbau, sorgten unter schwierigen Arbeitsbedingungen für wirtschaftliches Wachstum. Die anderen wanderten aus. Zwischen 1815 und 1914 verließen 5,5 Millionen Deutsche ihre Heimat und suchten in der Fremde eine neue Zukunft. Insbesondere die Heuerleute sahen in der Auswanderung oft ihre letzte Überlebenschance. In der Regel waren die USA das Ziel. Nordamerika nahm in drei großen Auswanderungswellen Menschen auf (1846–1857, 1864–1873 und 1880–1893). Erst das Wirtschaftswachstum der Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete die Massenauswanderung. Osnabrück lag in einem größeren Auswanderungsgebiet, das Südoldenburg, das südliche Emsland, das Osnabrücker und das Tecklenburger Land sowie den Bielefelder Raum umfasst. Manche Gemeinden wurden regelrecht „entvölkert“. Damme, Zentrum dieser nordwestdeutschen Auswanderungszone, verlor in den Jahren 1828–1890 über 27 % seiner Bevölkerung, das benachbarte Neuenkirchen 40 %. Die Stadt Osnabrück war als wachsender Industriestandort dagegen weniger betroffen.

Während des Nationalsozialismus wurden viele jüdischen Osnabrücker:innen, Künstler wie Felix Nussbaum und Friedrich Vordemberge-Gildewart oder politisch Verfolgte zur Flucht genötigt. Im Zweiten Weltkrieg wurden wiederum Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen nach Osnabrück geholt, um in der Industrie die einberufenen Arbeiter zu ersetzen und so die Kriegswirtschaft aufrecht zu erhalten. Am Ende des Krieges waren Millionen von Menschen in Europa an einen anderen Ort geraten – Displaced Persons. Flüchtlinge und Vertriebene aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches siedelten sich in Osnabrück und den umliegenden Städten und Gemeinden an. Sie machten etwa ein Viertel der Nachkriegsbevölkerung aus. Durch die Militärbesatzung kamen britische Truppen nach Osnabrück. Die Britische Garnison, zeitweise die größte in der Bundesrepublik, wurde erst 2009 aufgehoben. Bis dahin hatten sich viele persönliche Beziehungen entwickelt. Viele Briten blieben in ihrer neuen Heimat.

Filipo Ercolani (1938–2011) bei seiner Ankunft auf dem Osnabrücker Bahnhof im Oktober 1959 (© Museumsquartier Osnabrück – Kulturgeschichtliches Museum, A 5470)
Auch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er bis 1970er Jahren spiegelt sich in der Geschichte Osnabrücks. 1959 warb das Unternehmen Wilhelm Karmann GmbH über das Arbeitsamt Verona die ersten ausländischen Arbeitskräfte als „Gastarbeiter“ an. Im Oktober desselben Jahres kamen 21 Italiener aus der Gegend um Rom in die niedersächsische Stadt an der Hase. Sie wurden im Presswerk des Autoherstellers beschäftigt. Neben Karmann suchten schnell auch andere Osnabrücker Firmen vorrangig männliche Arbeitskräfte im Ausland; den Italienern folgen bald Portugiesen, Spanier, Griechen, Jugoslawen und Türken. Eine Art Bildikone für diese Zeit ist das Foto des „ersten italienischen Gastarbeiters“ in Osnabrück. Es zeigt den aus dem nordwestlich von Rom am Lago di Bolzena gelegenen Dorf Gradoli stammenden Filipo Ercolani (1938–2011) bei seiner Ankunft auf dem Osnabrücker Bahnhof im Oktober 1959 mit Koffer und Chiantiflasche beim Passieren der Bahnsteigsperre.

Es ließen sich viele weitere Gruppen und Ereignissen nennen, etwa die vietnamesischen „Boatpeople“, die in den 1970er Jahren Aufnahme fanden; die chilenischen Immigrant:innen, die nach dem Putsch vom 11. September 1973 vor der Militärjunta flohen; die Russlanddeutschen und jüdischen Kontingentflüchtlinge, die aus der Sowjetunion kamen u.a.m. Mit der Aufnahme von zahlreichen Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika sind wir schließlich in der Gegenwart angelangt.

Gerade mit Blick auf die negativen Beispiele der Geschichte wie etwa der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung sowie der Sinti und Roma während des Nationalsozialismus hat sich die Stadt Osnabrück in ihrer jüngsten Geschichte unter dem Logo der „Friedensstadt“ bewusst dafür entschieden, aus dieser Geschichte zu lernen, positive Schlüsse zu ziehen und Integration sowie ein menschliches Miteinander zu fördern. Die Bildung eines „Ausländerbeirates“ beginnt in Osnabrück außergewöhnlich früh. Das Verwaltungsressort „Integration“ wird dem Oberbürgermeister zeitweise direkt unterstellt. Bis heute wird der interkulturelle Austausch in der Stadt bewusst gepflegt. Die Förderung der Willkommenskultur gehört zu den zentralen Handlungsfeldern der 2015 im Rat verabschiedeten strategischen Ziele. Diese politische Zielgebung ist ein Signal an die Bürgerschaft, sich diesen Zielen anzuschließen und Integration gemeinsam zu leben.

Literaturhinweise: